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Caro's Welt

28. April 2024

Wie geht Stabilisierung in täglicher Konfrontationsarbeit?

Ich schreibe, um zu heilen. Tagebucheintrag aus meiner Schreibtherapie zum Thema "Glaube, Kultur und Schlüssel zum Erfolg"

Als wir heute im Gottesdienst waren, ging es um den Vergleich von Jesus als Weinstock. Dass es in der Kirche oft um Wein geht, daran haben sich meine Jungs schon gewöhnt und sie können das gut abstrahieren. Der Pfarrer freute sich heute so sehr über die Anwesenheit von Kommunionskindern, dass er meine Söhne aktiv in seine Lesung einbezog. Er kam mit dem Kelch Wein auf uns zu und ließ uns alle drei daran riechen. Es war nicht unser Gemeindepfarrer, der kennt nämlich unsere private und berufliche Mission und hätte uns deswegen vermutlich anders einbezogen. Jedenfalls fragte er Anton und Leo dann was das ist und wies sie darauf hin, dass sie das ja noch nicht trinken dürften. Er meinte es wirklich gut und gleichzeitig hatte er eben keine Ahnung was in mir vor ging, warum mir heiß und kalt wurde und ich sehr stark in einen inneren Dialog mit mir eintreten musste. Ich habe es dann geschafft ruhig zu bleiben und bin mit den Kindern nach dem Gottesdienst die Situation und Geschichte nochmal in Ruhe durchgegangen. Was dem Pfarrer glaube ich nicht bewusst war, ist wie ungünstig sich solche Aktionen auf die Wahrnehmung von Alkohol bei Kinder auswirken kann, unabhängig davon welche Einstellung ihre Eltern jeweils zu Alkohol haben. Du bekommst als Kind etwas ganz besonderes - fast heiliges unter die Nase gehalten. Dann wird es Dir wieder weggezogen mit dem Hinweis, dass wenn Du erwachsen und ein Teil dieser Gemeinschaft bist, in den ehrwürdigen Genuss des "Blutes Christi" gerätst... Auch thematisierte der Pfarrer die Spannungen in der Kirche und ihre Herausforderungen für unsere Gesellschaft flexibel genug zu bleiben ohne alte Regeln und Rituale aufzugeben. Es bleibt ein Weg des offenen Dialogs, egal worum es geht. Darin kann ich ihn bekräftigen und schloß für mich friedlich den Gottesdienst ab. Dennoch arbeiten solche Situationen immer lange in mir nach. 

Ich bin evangelisch getaufte Christin und nicht aus der Kirche ausgetreten. Bis heute von klein auf hat mich mein Glaube getragen und ich spüre wie sehr ihn auch meine Kinder tragen. Katholisch sind sie, weil sie in Köln das Licht der Welt erblickten. Ohne meine damalige Liebe in und zu Köln gäbe es diese göttlichen Kinder nicht. Alleine deswegen und aus Liebe zu meinen Kindern habe ich zumindest mit diesem Trennungstrauma meinen Frieden finden können. Köln werde ich immer in meinem Herzen tragen - auch ich bin ein kleines Weinträubchen, was aber eben nicht mehr gekeltert werden möchte. 

Manch ein Mensch könnte sich fragen, warum ich täglich über mich und Alkohol schreibe und wie zielführend das für meine langfristige Genesung sein mag? "Caro, Du bist doch mehr als ..." irgendeine Assoziation zu meinen unzähligen Alkoholerfahrungen? Natürlich bin ich das. Ich beschäftige mich im Alltag auch viel mit anderen Themen und Freuden in meinem alkoholfreien Leben. Im Außen, da habe ich mich dem Thema allerdings sozusagen "verschrieben" und setze meiner Mitteilungsbedürftigkeit dazu bewusst keine Grenzen mehr. Was raus muss, muss raus. Wenn es raus ist, hat es wenigstens eine Chance, irgendwo zu wirken und quält sich nicht länger in den Grenzen meiner Gedankenwelt. Schreiben war schon immer ein sehr wohltuender Kanal für mich. Und wisst ihr was? Gerti hat auch unglaublich viel und gerne geschrieben. Leider zu selten nüchtern.

Kürzlich riet uns ein erfahrener Berater, der sich ein Leben lang in der Suchthilfe engagierte und bald in Rente geht: "Macht weiter, gebt nicht auf und seht Euch wie Bauern, die Samen sähen. Erwartet keine reichhaltige Ernte, aber vertraut auf die Früchte, die ihr nicht direkt erkennen könnt." Ein bisschen Jesus-Mentalität vielleicht? Als selbst ernannte Heilsbringer*in oder Erlöser*in, die mit ihrer Kommunikation Menschen eines ihrer liebsten Kulturgüter und Genussmomente madig macht, zöge ich als potentielle Messianin nicht unbedingt massenhaft Sympathie und Verständnis für meine Mission auf mich. 

Was möchte ich also eigentlich erreichen und warum schreibe ich jeden Tag schon fast fanatisch über Alkohol? 

Also als aller Erstes möchte ich für meine Kinder eine mentale Stabilität finden. Das ist wie in dem Beispiel mit einem abstürzenden Flugzeug. Immer erst sich selbst helfen. Gefühlt stürzen wir in der medialen Öffentlichkeit seit der Pandemie immer mehr in Hass, Spaltung und Trostlosigkeit als Gesellschaft ab und dabei gilt es als Mutter in dem Wahnsinn nicht den Verstand zu verlieren und meinen Kindern Mut, Vertrauen und Zuversicht für ihr Leben und ihre Zukunft zu vermitteln. Am liebsten würde ich auch täglich schreien, für das Klima gegen Rassismus oder für Kinderrechte und so viele weitere soziale Misstände demonstrieren. Ich musste eine Entscheidung treffen und einen Fokus für mich setzen, der das Gedankenkarussel in meinem Gehirn nicht in Dauerschleife ohne Suchtmittelmissbrauch abdrehen lässt: Weiter wie bisher war also aus vielerlei Gründen keine Alternative. Das schien lange unter verdeckten Qualen als bequem und finanziell sicherer, was ich gesundheitlich einfach nicht mehr aushielt. Irgendwie so wie gewohnt klarkommen, nicht so anstellen und in sicheren liebevoll fürsorgenden Gefilden nebenbei mitschwimmen? Einfach vergessen, Schwamm drüber? Immer weiter swipen bei der xten Beweihräucherung für gesundheitlich oder sozial fragwürdige Kommunikationslösungen im world wide web? Wie würden meine präpupertierenden Jungs mittlerweile sagen?

"Öhm ... nope, sorry Digga"

In die öffentliche Konfrontation gehe ich deswegen nur noch bei richtig schlimmen Fehltritten wie der Weihnachtskampagne von Burger King. Um alle anderen Aktionen darf sich gerne Cem Özdemir kümmern. Denn es ist natürlich meine Pflicht, mich aktiv für meine gesundheitliche Genesung einzusetzen und mich nicht kontraproduktiv und selbstzerstörend zu verhalten. 

Was mir in 42 Jahren Leben mit Alkohol bis Sommer 2022 widerfahren ist, kann ich allerdings nicht mit einem kurzen LinkedIn-Outing und dann "Leben wie bisher" ver- und aufarbeiten. Ich kann das nicht und ich will es nicht. Ich bin ein Mensch mit wenig Mittelmaß, dafür mit viel Leidenschaft. Was Leiden schafft, dazu habe ich schon viel in meinem Social Media-Therapiebecken aufgearbeitet. LinkedIn wurde nüchtern für mich wie für viele andere verlorene oder erwachte Business-Seelen auf dem Weg zur Neufindung so ein bisschen offene Therapiestunde zum lernen, aufgeilen, mit- oder abschreiben. Schreiben hilft mir einfach wirklich und seitdem kein Mensch mehr so sicher weiß, was die Erfolgsformel der Zukunft ist, scheint wieder alles möglich.

Nicht existente Marktwerte können von heute auf morgen plötzlich durch penetrante Selbstdarstellung an politischer Relevanz gewinnen. Fast täglich findet man im Social Media Versuche durchaus konstruktiver Kompensation von Hilflosigkeit, Wettbewerbsdruck, Einsamkeit oder Ausdruck krankhaft geltungssüchtigem Verhalten für einen aber zumindest guten Zweck? Ich ertappe mich selbst bei allem davon, je nach Tagesverfassung. Nicht jeder Zweck heiligt dort alle Mittel, schon klar. Am Ende des Tages ist mir auch das in der Außenwirkung schon länger egal, was unglaublich frei und manchmal dennoch weiter Angst machen kann. Sicher fühle ich mich noch lange nicht, aber eben etwas freier. 

Schwäche und Authentizität zeigen traute ich mich in den letzten Jahren leider nirgends. Durch diverse Vertrauensbrüche und meinen problematischen Alkoholkonsum stellte ich mich insgeheim selbst zu sehr in Frage, traute niemandem mehr so richtig und baute eine toxische Mauer um mich. Deswegen meine ich auch Til Schweiger fühlen zu können. Was der vermutlich überhaupt nicht will. Von Ex-Alkis verstanden werden wollen empfindet er gerade womöglich als Affront. Reine Mutmaßung natürlich, sorry für die Bewertung und Stigmatisierung, auch ich bin nicht immer frei davon.  

Nun stelle ich also seit Kurzem meine "Schwäche" und mein erfahrenes "Leid" sehr bewusst zur Schau, um im Schreiben und öffentlichen Zurschaustellen belastende Emotionen und negative Gedanken zu verarbeiten und damit gleichzeitig anderen Menschen Denkanstöße anzubieten. Was ich im Alltag immer wieder mit mir aushandeln muss ist die Unsicherheit, die durch meine Ambivalenz aus starkem Selbstbewusstsein und schwachen Selbstwert entsteht. Zum Glück bin ich da gut reflektiert und habe genug vernünftige Menschen um mich, die mich gekonnt einnorden. Heißt nicht, dass ich immer auf sie höre ;-) 

Ich habe in meinem bisherigen Berufsleben meistens dann Applaus oder einen Daumen hoch erhalten, wenn ich authentische Patient*innentagebücher oder Patient*innengeschichten und davon abgeleitete Kommunikationsstrategien sowie Hilfsangebote für andere Erkrankte und deren Angehörige entwickelt hatte. Ja, das habe ich durchaus erfolgreich gemacht und bin stolz darauf, dass ich das kann. Gleichzeitig fragte ich mich oft, wieso ich das eigentlich tat oder fragte mich in letzter Zeit häufig, warum ich das zu einer gewissen Zeit, in der es mir besonders geholfen hätte, nicht tun konnte? Das beste und wichtigste an all den Fragen und Gedanken: ich tue es jetzt endlich für mich und bin den Menschen, die mir diese Kompetenz beigebracht und ausleben haben lassen sehr dankbar. 

Die größten Unsicherheiten, die uns im Umgang mit Sucht begegnen:

  1. Wie erkenne ich, ob jemand ein Konsumproblem hat oder an einer Suchterkrankung leidet und wie verhalte ich mich am besten (in verschiedenen Rollen) unterstützend?
  2. Wie gehe ich mit uneinsichtigen Betroffenen um, alternativ zu einer Trennung und ohne mir selbst im aktiven Umgang zu schaden? 

Zur Beantwortung dieser Fragestellungen komme ich gleich. Zunächst möchte ich mich noch abschließend an meiner exzentrischen Rechtfertigungsstrategie und andauernden Opferrolle abarbeiten:

Eine Zeit lang habe ich nämlich während meiner aktuellen Erkrankung versucht, einfach nicht zu schreiben und das Thema Alkohol außen vor zu lassen und musste leider feststellen, dass das nicht mein Weg sein kann. Unabhängig von meinem persönlichen Umgang mit meiner suchtbedingten Selbstdarstellung komme ich durch keinen Tag, ohne, dass ich mehrfach durch Alkohol angetriggert werde. Das ist so, wenn Mensch in Deutschland und insbesondere in Bayern lebt. Alleine das Beispiel unserer heutigen Glaubenserfahrung bringt das ziemlich deutlich zum Ausdruck. Ich kann mich schlecht gegen unsere Kultur im Alltag komplett verschließen und gleichzeitig meinen Jungs ein annehmbares Leben in ihrem Wohnort ermöglichen. Genauso wenig kann ich mich stabilisieren, wenn ich mich kommunikativ einfach still lege und alles was ich mir in den letzten Jahren unter hohem Leidensdruck und großen privaten Investitionen und familiären Abstrichen alleine aufgebaut habe, einfach riskiere. Es bleibt ein Drahtseilakt. Meine mentale Entwicklung ist mein Business. Irgendwie eine absurde Verquickung, oder? 

Dazu kommt: Ich bin nicht geheilt oder gesund, nur weil ich substanzfrei lebe. Die Symptome meiner posttraumatischen Belastungsstörungen sind da -  täglich seit meiner letzten Verdachtsdiagnose. Und im Umgang mit ihnen hilft es mir nicht, den Mund zu halten und die Tastatur zu schließen. Je länger ich mich mit den gesundheitlichen Risiken von Alkohol, mit Gertis und meinem Suchtleben, der deutschen Kultur und Alkoholpolitik und vor allem der sozialen sowie medizinischen Versorgungsstruktur für suchgefährdete oder suchterkrankte Menschen in Deutschland beschäftige, desto mehr spüre ich, wie richtig und wichtig es ist, dass ich meine kompletten Erfahrungen, Stärken, Schwächen und Lebenszeit genau diesem Thema widme mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln und mit allem, was ich noch in Zukunft an Unterstützung oder mindestens friedlicher und respektvoller Koexistenz von möglichen Entscheidungsträger*innen erwarten darf. 

In der aktuellen Selbsterfahrung und Therapiephase meiner Patientjourney, knapp zwei Jahre nach meinem letzten Schluck Alkohol liegt, womöglich der Schlüssel, wie ich durch die Verarbeitung der traumatischen Krisen meiner Familien maximale Sinnstiftung erfahren, anderen Menschen wirklich helfen und selbst eventuell sogar daran heilen und inneren Frieden finden könnte.

Wir sind der festen Überzeugung, dass wir durch unsere autobiographischen Erfahrungen in Deutschland gekoppelt mit Ableitungen aus aktuellen Entwicklungen der internationalen Wissenschaft, mit Beobachtungen aus der suchtmedizinischen Praxis und dank empirischer Daten aus dem Ausland im Umgang mit Angehörigen und Suchterkrankten neue hilfeiche Impulse gefunden haben, die wir hoffentlich in der zweiten Jahreshälfte werden weiter ausarbeiten können, sobald auch ich wieder richtig aktiv werden kann. 

Unser Ziel ist es weiterhin, Menschen in Deutschland, die mit Personen zu tun haben, die gefährdet sind oder unter Suchterkrankungen leiden, sei es privat oder beruflich, bewusst oder unbewusst, eine neue Art von unterstützender Hilfe anzubieten. Diese Hilfe soll dazu beitragen, das Stigma zu reduzieren und Ressourcen effizient einzusetzen. Durch eine aktive Beteiligung in einem Netzwerk verschiedener Bereiche möchten wir diesen Menschen mehr Sicherheit im Umgang und selbstschützende Handlungsfähigkeit ermöglichen.

Könnte Gerti heute noch leben (wollen), wenn wir meinen Wissensstand von heute damals als Familie gehabt hätten? 

SELBSTSTIGMATISIERUNG HINDERT HILFESUCHE

Wir helfen mit unserer autobiographischen Interpretation des progressiven Modells (Schomerus et al., 2011a) Menschen, die mit suchtgefährdeten oder suchterkrankten Menschen im privaten und beurflichen Umfeld zu tun haben die Mechanismen der Selbststigmatisierung leichter zugänglich zu machen. Dazu bieten wir kommunikative Trainings und praktische Anwendungstipps, wie durch einfache Interaktionen Selbststigmatisierung bei Betroffenen und Mitbetroffenen abgebaut und ihre Hilfebereitschaft gestärkt werden kann.  

MAMAS SCHAM UND SCHULDGEFÜHLE MINDERTEN IHREN SELBSTWERT UND DAMIT IHRE BEREITSCHAFT ZUR HILFESUCHE (GLEICHER MECHANISMUS WIE BEI MIR SELBST EINE GENERATION SPÄTER) 

Mama war ein Trennungskind der 1960er Jahre und ein Kind aus einer suchtbelasteten Familie. Die Spielsucht ihres Vaters Georg, der wiederum als Kind in der Kriegszeit in einem angespannten Familiensystem aufwuchs und mutmaßlich außerfamiliär Missbrauchserfahrungen erlebte, ruinierte nicht nur beinahe ihre Kindheit, sondern auch die finanzielle Existenz weiterer Familien und Kinder. Meine Oma Leni hatte damals keine andere Möglichkeit, als sich von ihrem suchterkrankten Mann  zu trennen, um sich und ihre kleine Gertrud zu schützen. Als Georg in den 1980er Jahren an Krebs litt, nahm er wieder Kontakt zu seiner Tochter Gerti, meiner Mama auf und beide versuchten in 1,5 Jahren intensiver Pflege, Sterbebegleitung und liebevoller Zuneigung ihr verpasstes Leben aufzuholen. Als ihr Vater starb, war meine Mama emotional und psychisch völlig am Ende und bereits mit Ende 20 stark alkoholabhängig. 

BIER UND WEIN GEHÖREN ZU BAYERN WIE DAS AMEN IN DER KIRCHE  

Wir helfen in der Suchtprävention mit der Darstellung unserer omnyversen Rollenerfahrungen den sozialen und kulturellen Stellenwert von Alkohol in allen Gesellschaftsbereichen abzubauen, sowie über die gesundheitlichen Risiken (bei bereits geringem oder "verantwortungsvollem" Konsum) und sozialen Schäden des Suchtmittels Alkohol über Generationen hinweg aufzuklären. 

In den 1980er Jahren sprach kaum ein Mensch offen über Suchterkrankungen. Sozialpsychologische Herausforderungen sowie therapeutische Ansätze bei Selbststigmatisierung oder mangelndem Selbstwert waren unserer Familie nicht zugänglich. Alkohol ist in Bayern Identifikation, wichtiger Bestandteil unserer Kultur und sozialen Lebens, ein Lieblingselixier für Zugehörigkeitsstiftung sowie Wirtschaftsfaktor. Das staatliche Hofbräuhaus mit seinem berühmt berüchtigten und medienwirksamen Starkbieranstich ist ein Wirtschaftsunternehmen des Freistaat Bayern. Psychische oder emotionale Belastungen im Kontext von problematischen Alkoholkonsum wurden nicht als behandelbare Erkrankungen erkannt, sondern eher als Charakterschwächen oder mangelnde Willenskraft eingeordnet. Bei nicht wenigen wertgeschätzen Mitbürger*innen in Bayern existiert die Haltung heute noch. Dass Mama als Besitzerin eines Lotto-Geschäfts und Tabakladen mit Miniaturschnapsflaschen unter dem Tresen einen täglichen Wahnsinn erleben musste, wurde mir erst in den letzten Monaten begreiflich, nachdem auch ich durch einen langen Leidensweg kultivierten Rotweingenusses triumphierte. Deshalb verstehe ich auch so gut, warum es bei vielen Menschen nicht reicht ab und an einmal etwas kritisches oder gesundheitsriskantes über Alkohol aufzuschnappen, während sie tag täglich in Deutschland in allen Kannälen mit ganz viel WIR, GLÜCK, ERFOLG und LEBENSFREUDE über gemeinsame Alkoholmomente betüddelt werden. Um zu begreifen, was Alkohol eigentlich ist, braucht es Penetranz unangenehmer Wahrheiten - vor allem wenn Mensch und Marke in einer Region mit der größten Brauereidichte der Welt ansässig ist. Ich verstehe die Skepsis, Angst und Vorbehalte gegenüber Alkoholverächterinnen wie mir wirklich und natürlich hatte ich selbst auch so viele wundervolle Momente mit Alkohol und mit wundervollen Menschen in meinem Leben. Aus diesem Grund ist mir auch mein Geschäftspartner Stefan beigesprungen, der u.a. eine weniger verächtliche Einstellung zu Bier bezieht als ich. Nur, um anderen besser zu gefallen, werde ich meine Authentizität nie mehr aufgeben. Und zu meiner heutigen Echtheit nach meinem persönlichen Reinheitsgebot bedeutet das für mein Privatleben: NULL ALKOHOL. Das GERTY NUSS Team hat darüber hinaus Hilfestellungen erarbeitet, die Menschen auch in einem Leben mit Suchtmitteln unterstützen möchte. Dazu kommen wir gleich. 

Letzter Gedanke zu Stigma und Kultur: Solange wir die Volksdroge Alkohol weiterhin kulturell verharmlosen und verherrlichen und problematischen Alkoholkonsum nur als menschlichen Kontrollverlust und nicht auch als Substanzimmanenten Wirkmechanismus verstehen, nehmen wir vielen suchtgefährdeten und suchterkrankten Menschen die Chance, sich ihrer Scham und Schuldgefühle zu entledigen, ihre Probleme zu erkennen und Hilfe suchen zu können. 

April 2024: Oma Leni (86), Mama von Gerti (†2013) und ihr Urenkel Anton (9) I Foto: Nicole Heupel 

Hätten wir als Familie eine Chance gehabt, wenn sich Gerti nicht von mir getrennt hätte als ich 11 Jahre alt war? 

UNFREIWILLIGE TRENNUNGEN HINTERLASSEN TIEFE VERLUST- UND VERSAGENSÄNGSTE 

Wir helfen Menschen, die privat oder beruflich mit substanzabhängigen Menschen und/oder mit Mitbetroffenen aus deren Umfeld zu tun haben, angemessene Problemlösungsstrategien und unterstützende Kommunikationskompetenzen so zu vermitteln, dass alle Beteiligten ihre eigenen Ressourcen selbstfürsorgend schützen können. Hilfe zur gemeinschaftlichen Selbsthilfe statt Trennung als Standardempfehlung. Dabei bedienen wir uns u.a. an Impulsen anlehnend an das CRAFT Training ("Das Community Reinforcement Ansatz basierte Familientraining") für Angehörigenarbeit, welches von Dr. Gallus Bischof und Dr. Jennis Freyer-Adam für Deutschland übersetzt und wissenschaftlich weiter begleitet wird. 

MAMA UND ICH HATTEN KEINE HILFE UNSERE BEZIEHUNG ALS RESSOURCEN ZU ERKENNEN 

Diese Nuss liegt mir persönlich besonders schwer auf der Seele. Ich stelle mir oft vor, wie es gewesen wäre, hätte ich Anfang der 2000er meinen Kenntnisstand von heute gehabt. Ich glaube wirklich, wenn ich mit meinem heutigen Wissen damals auf Gerti hätte zugehen und meinen eigenen problemtischen Umgang mit Alkohol früher besser verstehen hätte können, am besten genau in den 7 Jahren als sie trocken war und ich gerade richtig trinkfest wurde, dann könnte sie heute noch leben. Sowohl meine persönlichen Analysen dazu als auch weitere Informationen zu CRAFT und unsere Leitfäden für Angehörige veröffentlichen wir zu einem späteren Zeitpunkt. Für diesen Tagebucheintrag war es mir erstmal wichtig, den Zusammenhang für die Stabilisierung in täglicher Konfrontationsarbeit mit herzustellen. 

In weniger Konfrontation und mehr Verständnis für einen wertschätzenden Umgang mit suchtbelasteten Familien auch während oder trotz eines Suchtmittelkonsums liegt meiner Ansicht nach auch viel ungehobenes Potential. Wie bei den meisten Fragen im Suchtumfeld gibt es keine absoluten Antworten und keine pauschalen Lösungen. Wie sagt man so schön? It depends... Ich habe persönlich das große Glück meine persönliche Erfüllung RECHTZEITIG in einem alkoholfreien Leben gefunden zu haben und ich bin für diese Lebensstrategie vom Glück geküsst, was meine Ressourcen um mich herum betrifft. 

Ob Gerti suchtfrei und ohne Suchtmittekonsum oder ohne Substitution noch leben würde oder wollte, da würde ich Stand heute noch ein großes Fragezeichen hinter setzen. ABER: ich bin sehr stark davon überzeugt, dass wir ihre Leberzirrhose als Todesursache hätten verhindern oder wenigstens um einige Jahre hinauszögern hätten können. Wäre sie dann noch mit einer medizinischen Substitution ggf. in einen weniger depressiven Zustand gekommen, hätte sie eventuell sogar noch freiwillig länger leben wollen und ihr Leben wieder als lebenswert annehmen können?

Und damit schließe ich meinen heutigen Tagebucheintrag. Meine Mama war mir nie so nah wie in den letzten 2 Jahren seitdem ich nicht mehr trinke. Ich weiß, dass ich sie mit GERTY NUSS nicht mehr lebendig machen kann, aber ich hoffe, dass unser Freigeist vielen suchtbelasteten Familien und Kindern in Zukunft noch helfen und ich mit meinem Projekt Frieden und Freiheit finden kann. 

Puh, das war eine lange Session, ich hoffe sie hat nicht nur mir, sondern auch Euch gut getan und inspiriert. 

Bis zum nächsten Mal - alles Liebe! 

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